Interview mit Julia Gollan-Müther und Simon Royal

Schulsozialarbeitende

Julia Gollan-Müther und Simon Royal arbeiten seit vielen Jahren als Schulsozialarbeitende in der Martin-Luther-King-Schule in Marl. Im Interview sprechen sie über ihre Erfahrungen mit Gewalt, ihre Rolle als Schulsozialarbeiter und wirksame Maßnahmen gegen Gewalt.

Frau Gollan-Müther und Herr Royal, Sie sind seit 16 bzw. 5 Jahren als Schulsozialarbeitende der Martin-Luther-King-Schule in Marl tätig. Wie sehen Sie persönlich die Entwicklung des Themas Gewalt in Schulen? Hat sie zugenommen oder sich verändert?

Beide: Gewalt ist und war schon immer ein Thema im Lebensraum Schule. Schon in unserer Schulzeit gab es sowohl körperliche als auch seelische Gewalt. Das bringt der Zwangskontext Schule mit sich.

Seither hat Gewalt sich aber in jedem Fall verändert. Wenn früher jemand bei einer Prügelei auf dem Boden lag, hörte man auf. Heute tritt man nochmal zu.

In der jüngeren Zeit ist Corona sicherlich nochmal ein starker Faktor, der zur Veränderung der Gewalt beigetragen hat: Während vorher eher körperliche Auseinandersetzungen der Regelfall waren, nimmt seither die psychische Gewalt zu. Die vermehrte Nutzung von Social Media während der Isolation führte aus unserer Sicht zu einer Verschiebung von körperlicher zu psychischer Gewalt.

Aber auch das Augenmerk des pädagogischen Personals an Schulen hat sich in den letzten 20 Jahren verändert und geschärft: Gewaltprävention rückte in den Fokus und Streitschlichtung, Soziales Lernen & Co sind aus dem Schulalltag eigentlich nicht mehr wegzudenken.

Ihre Schule hat viele Preise und Auszeichnungen und engagiert sich z.B. als Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage. Diesem Netzwerk können nur Schulen beitreten, in denen sich mindestens 70 Prozent aller Schülerinnen und Schüler sowie aller Mitarbeitenden für diese Selbstverpflichtung aussprechen. Gewaltfrei ist die Schule deshalb trotzdem nicht, oder?

Royal: Eine zu 100 Prozent gewaltfreie Schule ist utopisch, allein die Prozesse der Pubertät und des Heranreifens sorgen immer wieder mal für Übergriffe. Das klingt zwar furchtbar, ist aber auch wichtig für die psychosoziale Entwicklung. Gewalt entsteht fast immer aus Konflikten und das Meistern solcher muss erlernt werden. Barack Obama hat den Friedensnobelpreis bekommen. Zum Erhalt des Weltfriedens hat das offenbar nicht viel beigetragen. Aber anders gesagt: Wenn wir diesen Einsatz an Präventionsarbeit nicht brächten, wären die Auswirkungen nicht kalkulierbar, also bemühen wir uns um Verbesserung oder zumindest um den Erhalt des Status quo. Das ist der Kern von Präventionsarbeit. Wichtig ist jedoch, dass es trotz aller Widrigkeiten zu keinem Übermaß an Gewalt kommt. Und das haben wir fest im Griff, dank der gemeinsamen Arbeit an dem Thema.

Was beschäftigt Sie mehr: Gewalt unter den Jugendlichen oder zwischen Schülerinnen, Schülern und Lehrkräften?

Gollan-Müther: Die Gewalt unter den Jugendlichen ist eher ein Thema hier an der Schule. Lehrerinnen und Lehrer erfahren körperliche Gewalt vielmehr als Folge von Schlichtungsversuchen.

Wie gehen Sie mit Gewalterlebnissen – psychischen und physischen – in der Schule um? Was sind die häufigsten Vorkommnisse und typische Ursachen? Gewalt hat viele Ausprägungen: Mobbing, sexualisierte Gewalt, Stalking: Haben Sie auch damit zu tun?

Beide: Unsere Schule hat ein engagiertes Schulteam für Beratung, Gewalt und Krisenprävention. Dieses Team, in welchem wir als Schulsozialarbeitende eine wichtige Rolle spielen, arbeitet präventiv, intervenierend und nachsorgend bei Gewalterlebnissen. Die effektive Arbeit dieses Teams ist deshalb außerordentlich wichtig, weil sie allen im Schulalltag Beteiligten Handlungssicherheit bietet.

Kommt es dennoch zu einer körperlichen Auseinandersetzung in der Schule lautet die Devise: "Wer schlägt, der geht!". Die Streitenden werden für den Schultag als pädagogische Sofortmaßnahme nach Hause geschickt, um die Situation etwas zu beruhigen. Am darauf folgenden Tag vor Unterrichtsbeginn müssen die betroffenen Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern zu einem Gespräch mit einem Schulleitungsmitglied erscheinen. Zur tieferen Aufarbeitung des Konflikts kommt die Schulsozialarbeit als unterstützende Instanz hinzu.

Die häufigsten Vorkommnisse sind Beleidigungen, die in manchen Fällen zu körperlichen Auseinandersetzungen führen. Wir erleben alle Formen von Gewalt, da wir als Schulsozialarbeitende auch Anlaufstelle für Interventionen sind. Lediglich die Ausprägungen variieren.

Was ist Ihrer Meinung nach besonders wichtig im Sinne der Gewaltprävention an Schulen und wie bereiten Sie Konflikte im Nachgang auf? Beziehen Sie im Rahmen der Gewaltprävention auch die Elternschaft ein? Haben Sie Tipps für andere Schulen, welche Maßnahmen sich besonders bewährt haben?

Beide: Gewaltprävention kann nur dann gut funktionieren, wenn alle Lehrkräfte und das pädagogische Personal dies leben bzw. vorleben. Gewaltprävention funktioniert nur als Ganzes: Es nützt nichts, wenn man gute Konzepte in der Schublade hat, diese aber nicht oder nur vereinzelt umsetzt. Haltung spielt hier eine große Rolle und das betrifft nicht nur die einzelnen Lehrkräfte, sondern setzt bereits oben bei der Schulleitung an.

Prävention beginnt schon im Vorbeigehen. Wenn z.B. eine Lehrkraft hört, wie sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig (wenn auch aus "Spaß") beschimpfen und sie respektvoll darauf aufmerksam macht, dass hier an der Schule ein anderer Umgangston gepflegt wird, ist das schon Gewaltprävention.

Die Nachbereitung eines Konflikts ist richtig und wichtig. Nur so können Schülerinnen und Schüler für zukünftige Konflikte lernen, wie man diese gewaltfrei löst. I.d.R. passiert die Aufarbeitung/ Nachbereitung mit den Lehrkräften und den beteiligten Schülerinnen und Schüler. Sollte es dort Schwierigkeiten geben und/oder Schülerinnen und Schüler betroffen sein, welche aus unterschiedlichsten Gründen (schwierige Familienverhältnisse, geringe Frustrationstoleranz etc.) Unterstützung brauchen, ist unsere sozialpädagogische Expertise gefragt und gemeinsam arbeiten wir die Konflikte dann auf.

Eltern unterschreiben schon bei der Anmeldung ihrer Kinder in Klasse 5, dass sie das Schulprogramm bzw. die Schulordnung mittragen und gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen ihre Kinder erziehen.

Man darf nicht vergessen, dass Kinder an unserer Schule, einer Gesamtschule, rund ein Drittel des Tages verbringen. Entsprechend sind wir ebenso soziale Instanz wie die Kernfamilie und daher gelingt ein erfolgreicher Start ins Erwachsenenleben nur dann, wenn alle zusammen arbeiten.

Im aktuellen Schutzkonzept, haben wir die Eltern eng mit einbezogen. Auch wenn die Schüler ein Drittel des Tages bei uns sind, entlässt das die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung als zuvörderst Verpflichtete für Pflege und Erziehung.

Neben den vielfältigen Angeboten, wie etwa Soziales Lernen, Medienscouts, Streitschlichtung Coolnesstraining etc. ist, wie bereits erwähnt, ein gut funktionierendes Schulteam für Beratung, Gewalt und Krisenprävention eine weitere Maßnahme, die sich wirklich sehr bewährt hat. Nicht nur in großen Krisen (Tod, Suizid etc.) werden dort Handlungssicherheiten, Strategien im Schulalltag und eine gemeinsame Haltung im Schulleben entwickelt. Den Leitfaden, den der neue Notfallordner dazu bietet, gibt den Verantwortlichen in den Schulen die Möglichkeit, das passende Modell für das eigene System zu erarbeiten und anzupassen.

Auch räumliche Begebenheiten wie z.B. abgelegene Toiletten oder nicht einsehbare Schulhof-Ecken können förderlich für Gewalt sein. Wurden oder werden solche Aspekte in Ihrer Schule berücksichtigt und verbessert? Gibt es auch technische und/oder organisatorische Maßnahmen wie beispielsweise Zugangskontrollen?

Beide: An der MLKS haben wir schon lange daran gearbeitet diese Ecken zu reduzieren bzw diese gar nicht entstehen zu lassen, um Gewalt bzw. Übergriffe zu vermeiden. Hier war die Implementierung des Schutzkonzepts eine gute Möglichkeit, diese Ecken nochmal sichtbarer zu machen und zu evaluieren. Es stellte sich heraus, dass dies hier wirklich kein Thema ist. Der Schulhof ist in Zonen aufgeteilt und dort befinden sich eine oder mehrere Aufsichten.

Auf den Toiletten übernehmen Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrkräften, in einem von der SV und den Lehrkräften ausgearbeitetem Konzept die Aufsicht, um vornehmlich Vandalismus vorzubeugen.

Was würden Sie sich für einen respektvollen und gewaltfreien Umgang miteinander wünschen -- in der Schule als auch in der Gesellschaft? Haben Sie Vorschläge für Verbesserungen, Tipps oder Forderungen an die Politik oder die Gesellschaft?

Gollan-Müther: Mir sind eine Begegnung auf Augenhöhe und ein wertschätzender Umgang ein großes Anliegen. Wenn ich freundlich und wertschätzend auf Menschen zugehe, wird es mir i.d.R. gespiegelt. Schreie ich bei Fehlverhalten hingegen direkt einen Menschen an, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn er zurück schreit und so eine Situation auch eskalieren kann.

Des Weiteren müssten in unserem Bildungssystem mehr personelle Ressourcen geschaffen werden. An jeder Schule sollte es neben den Lehrkräften viel mehr pädagogisches Personal geben. Nur so kann (Gewalt-) Prävention im Lebensraum Schule auch nachhaltig funktionieren. Ansonsten bleibt oft nur Zeit für Intervention.

Royal: Ich finde darüber hinaus, dass die Gesetzgebenden inzwischen in die Verpflichtung genommen werden müssen, die Sozialen Medien zu regulieren. Neben der ganzen Absurdität der vollkommen überzogenen und filtergeschwängerten Selbstdarstellung, die sich junge Menschen als Idole und Vorbilder nehmen, ist es längst salonfähig geworden, sich gegenseitig auf niederträchtigste Art und Weise zu beschimpfen. Das passiert unter Jugendlichen in der Freizeit und entlädt sich dann in der Schule. Und wir müssen dann die Scherben zusammenfegen. Da muss wirklich dringend etwas passieren, denn das betrifft inzwischen längst alle Schulsysteme.

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