Andre Niewöhner ist Leiter der Koordinierungsgruppe #sicherimDienst.
#sicherimDienst ist ein Präventionsnetzwerk für mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst in Nordrhein-Westfalen. Es umfasst als Netzwerk Einzelpersonen ebenso wie Organisationen und ist nicht auf NRW beschränkt. Mehr als 2.300 Beschäftigte aus über 850 Behörden, Institutionen, Verbänden oder Organisationen sind Partner. Es bietet die Möglichkeit zum gemeinsamen Austausch rund um das Thema Gewalt am Arbeitsplatz. Insbesondere stellt es Praxisbeispiele und allgemeine sowie tätigkeitsbezogene Handlungsempfehlungen / Leitfäden zur Verfügung und macht durch Aktionen und Öffentlichkeitsarbeit auf die Thematik aufmerksam.
Herr Niewöhner, wann wurde das Netzwerk #sicherimDienst gegründet und was war der Anlass für die Gründung?
Gewalt am Arbeitsplatz ist ein Thema, das uns alle betrifft. Jede Bedrohung, jede Anfeindung und jeder körperliche Angriff ist einer zu viel. Um diesem Problem zu begegnen, wurde in Nordrhein-Westfalen die Initiative „Mehr Schutz und Sicherheit von Beschäftigten im öffentlichen Dienst“ ins Leben gerufen. Teil dieser NRW-Initiative der Landesregierung ist seit 2022 das Präventionsnetzwerk #sicherimDienst. Ziel ist es, einen gemeinsamen Austausch zu ermöglichen, Best-Practice-Beispiele zu teilen und Strategien für den Gewaltschutz zu entwickeln. Über 2.300 Beschäftigte aus mehr als 850 Behörden und Organisationen sind inzwischen Teil dieses Netzwerks. Damit schaffen wir eine Plattform, die übergreifend Lösungen und Handlungsempfehlungen für verschiedene Tätigkeitsfelder anbietet.
Einsatzkräfte, Klinikpersonal, Beschäftigte in Arztpraxen und viele weitere Beschäftigte in verschiedenen Branchen tragen ein hohes Risiko bei ihrer Tätigkeit Gewalt zu erfahren. Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen und körperliche Übergriffe: Haben diese Gewalttaten auch im öffentlichen Dienst zugenommen? Welche Bereiche sind besonders betroffen?
Ja, die Häufigkeit und Intensität von Gewalt haben in den letzten Jahren zugenommen. Studien zeigen, dass jede vierte Person im öffentlichen Dienst von Gewalt betroffen ist – sei es durch Beleidigungen, Bedrohungen oder körperliche Übergriffe. Während Einsatzkräfte oder Klinikpersonal oft im Fokus stehen, dürfen wir andere Bereiche nicht übersehen: Mitarbeitende im ÖPNV, Bürgerbüros, Schulen oder politisch Aktive sind ebenfalls betroffen. Diese Berufsgruppen sind vielleicht weniger sichtbar, erleben jedoch zunehmend Aggression. Ein Grund ist, dass Beschäftigte oft als "Gesicht des Staates" wahrgenommen werden. Frustration oder Unzufriedenheit entladen sich dann auf sie – ob direkt vor Ort, online oder in den sozialen Medien.
Für welche Tätigkeitsfelder hält das Netzwerk Empfehlungen und Leitfäden bereit?
#sicherimDienst berücksichtigt die unterschiedlichen Anforderungen der Arbeitsfelder im öffentlichen Dienst. Daher gibt es spezifische Handlungsempfehlungen für verschiedene Zielgruppen, ob Einsatzkräfte, Beschäftigte in Verwaltungen oder im Außendienst, Schule, Krankenhaus, ÖPNV und für politisch Aktive. Grundlage aller Maßnahmen ist die gesetzliche Gefährdungsbeurteilung, die Risiken am Arbeitsplatz identifiziert. Unser Ziel ist es, niederschwellige und hilfreiche Lösungen bereitzustellen, die Beschäftigte in ihrem jeweiligen Arbeitsumfeld schützen.
Welche Maßnahmen der Gewaltprävention haben sich aus Ihrer Sicht in der Praxis besonders bewährt (technische, organisatorische, personelle)?
Gewaltschutz ist komplex und umfasst verschiedene Facetten. Es gibt baulich-technische Maßnahmen wie Alarmknöpfe oder Fluchttüren, organisatorische Ansätze wie klare Meldeketten und Verfahrensabläufe. Gleichzeitig spielen personenbezogene Faktoren wie die persönliche Einstellung und die eigene Handlungssicherheit eine zentrale Rolle. Wie gehe ich mit Konflikten um? Wie reagiere ich deeskalierend, ohne mich selber zu gefährden? Und wie reagiere ich, wenn die Situation trotzdem eskaliert? Wichtig ist auch die Nachbereitung: Sicherheitsvorfälle müssen aufgearbeitet, Betroffene unterstützt und Führungskräfte geschult werden. Alle diese Ansätze wirken zusammen und sind nur dann effektiv, wenn sie regelmäßig geübt und gelebt werden.
Was raten Sie den einzelnen Mitarbeitern, um sicherer zu sein?
Mein Rat: Machen Sie das Thema Gewaltschutz zum Thema! Fordern Sie Gefährdungsbeurteilungen ein, achten Sie auf ihre Kommunikation und melden Sie jeden Vorfall. Wer in Einzelarbeit tätig ist, sollte im Vorfeld klären, wie im Ernstfall Unterstützung organisiert wird. Nur selten kommen Angriffe aus dem Nichts. Es gibt häufig eine Eskalationsdynamik, bei der man durch Kommunikation oder auch Rückzug die Situation entschärfen kann. Das schönste Hochglanzkonzept nützt jedoch nichts, wenn man die Inhalte nicht lebt. Wichtig ist, dass man ins „Doing“ kommt, halt #Gewaltangehen. Prävention lebt davon, dass wir aufmerksam bleiben und stetig Verbesserungen einfordern.
Gibt das Präventionsnetzwerk auch Tipps für die Nachsorge von Gewaltvorfällen?
Absolut, Nachsorge ist unverzichtbar. Gewalt kann emotional stark belasten – vor allem, wenn der Umgang damit nicht zum Alltag gehört. Auch für Einsatzkräfte, die geschult sind, kann es Momente geben, an denen sie an ihre Grenzen stoßen. Führungskräfte tragen hier eine besondere Verantwortung, Betroffene zu unterstützen und Hilfe anzubieten. Ein transparenter und verlässlicher Umgang mit Vorfällen hilft, die Resilienz der Beschäftigten zu stärken.
Beschimpfungen und Bedrohungen: Wann raten Sie zur Anzeige?
Grundsätzlich gilt: Jede Form von Gewalt sollte konsequent zur Anzeige gebracht werden. Gerade bei dienstbezogenen Straftaten kann auch die Behördenleitung einen Strafantrag stellen. Wichtig ist, dass solche Vorfälle nicht als „normal“ hingenommen werden. Dennoch ist eine sorgfältige Abwägung im Einzelfall nötig. Nicht jede Unfreundlichkeit ist gleich eine Beleidigung, und nicht jeder Vorfall rechtfertig rechtliche Schritte. Entscheidend ist, dass wir als Gesellschaft und auch als Organisation klare Grenzen setzen und Gewalt nicht tolerieren.
Unsere Kampagne #GewaltAngehen geht davon aus, dass jede einzelne Person durch respektvolles Verhalten Gewaltprävention leben und Vorbild für eine gewaltfreie Kommunikation sein kann. Auch als Zeuge oder Zeugin von Gewalttaten können alle einen Beitrag leisten und Verantwortung übernehmen. Was wünschen Sie sich für ein gewaltfreies Miteinander?
Respekt muss die Grundlage unseres Umgangs sein – sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Wir brauchen eine Kultur, die gegenseitige Wertschätzung fördert und ein gewaltfreies Miteinander in den Mittelpunkt stellt. Dafür sind Politik, Arbeitgeber und jeder Einzelne gefragt. Es beginnt mit der Haltung, dass niemand als "Bittsteller" behandelt wird, sondern auf Augenhöhe miteinander agiert wird. Ein respektvolles Miteinander ist der Schlüssel zu einem sicheren und positiven Arbeitsumfeld.