Chemikalienstrategie der EU
Im Zuge des Green Deal hat die Europäische Kommission eine Chemikalienstrategie entwickelt. Diese soll sichere, nachhaltige Chemikalien fördern und Menschen sowie Umwelt schützen. DGUV Kompakt sprach mit Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung in Brüssel, über die Auswirkungen auf einzelne Branchen und Tätigkeiten.
Frau Wölfle, Sie haben sich in einer Stellungnahme im Namen der Deutschen Sozialversicherung (DSV) kritisch über die Chemikalienstrategie geäußert, warum?
Auf den ersten Blick sind die Überlegungen der Europäischen Kommission hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz durchaus ein Gewinn. Denn Personen, die mit Chemikalien in Berührung kommen, sollen stärker geschützt werden. Schaut man sich jedoch die Pläne zur Anpassung der Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe – kurz auch REACH-VO – genauer an, wird klar, wie weitreichend die Folgen sein könnten. Die Europäische Kommission möchte den bewährten, risikobasierten Ansatz bei der Arbeit mit Chemikalien für gewerblich Beschäftigte streichen. Das hieße, dass zahlreiche Tätigkeiten für gewerblich Beschäftigte nicht mehr möglich wären.
Können Sie das an einem Beispiel aufzeigen?
Aktuell gilt für Verbraucherinnen und Verbraucher – zu Recht – ein äußerst strenger Schutz vor gefährlichen Substanzen. Für gewerblich und industriell Beschäftigte, die mit chemischen Stoffen arbeiten, gelten hingegen andere Regeln. Dort hat sich ein risikobasierter Ansatz etabliert. Das heißt, die Gefahr, die von einem Stoff ausgeht, wird bewertet, die mögliche Exposition und die daraus entstehenden Folgen betrachtet. Auf dieser Grundlage werden Maßnahmen ergriffen, um die Personen am Arbeitsplatz zu schützen. So ist das sichere Arbeiten mit Chemikalien bislang möglich. Die Chemikalienstrategie sieht nun vor, dass künftig für gewerblich Beschäftigte die gleichen strengen Vorschriften gelten, wie für Verbraucherinnen und Verbraucher. Das bedeutet, sie können nicht mehr mit potenziell krebserzeugenden oder anderen Stoffen vergleichbaren Risikos arbeiten. Industriell Beschäftigte könnten hingegen weiterhin den risikobasierten Ansatz anwenden.
Das hätte doch bestimmt enorme Folgen für viele Branchen, vor allem mittelständische Unternehmen, oder?
Ja, das hätte sehr weitreichende Auswirkungen, beispielsweise für das Gesundheitswesen. Dort ist es üblich, Flächen mit formaldehydhaltigen Reinigungsmitteln zu desinfizieren. Medizinische Instrumente werden mit Ethylenoxid sterilisiert. Obwohl beide Stoffe krebserregend sind, ist ein sicheres Arbeiten auf Basis eines Arbeitsplatzgrenzwertes und entsprechen den Schutzvorschriften möglich. Nach der Chemikalienstrategie dürften diese Stoffe aber künftig nicht mehr von gewerblich Beschäftigten angewendet werden.
Was heißt das für das Baugewerbe, speziell den Umgang mit Asbest?
Auch da wären die Folgen enorm. Gerade beim Abriss oder der Renovierung werden bis heute asbesthaltige Materialien entfernt. Da Asbest krebserzeugend ist, wäre das nicht mehr möglich. Denn der Ausbau erfolgt ausschließlich durch gewerblich Beschäftigte.
ZITAT
"Zahlreiche Tätigkeiten wären für gewerblich Beschäftigte nicht mehr möglich."
Welche Empfehlung geben Sie der EU in der Stellungnahme?
Aus Sicht der DSV sind weder die geplanten unterschiedlichen Schutzvorschriften von gewerblichen und industriellen Beschäftigten noch das Verbot von Tätigkeiten mit gefährlichen Stoffen für diese Berufsgruppen sinnvoll. In Deutschland sind Beschäftigte auf die Tätigkeit mit Gefahrstoffen gut vorbereitet – durch die Risikobewertung, auf deren Grundlage Maßnahmen zur Risikominimierung getroffen werden. Der bewährte risikobasierte Ansatz sollte für gewerblich und industriell Beschäftigte gleichermaßen beibehalten werden.
Die EU will auch eine neue Gefahrenklasse zur Einstufung, Kennzeichnung und Verpackung von Chemikalien einführen. Wie passt das zum Ziel, das global harmonisierte System der UN (UN-GHS) als weltweiten Standard zu etablieren?
Die EU würde mit den neuen Gefahrenklassen entgegen ihrer Intention als wichtige Unterstützerin des UN-GHS das Systemschwächen und ein fatales Signal an die Staaten senden, die das System einführen wollen. Aus Sicht des Arbeitsschutzes würde die Einführung spezieller Gefahrenklassen zudem nicht zwingend zu einem Zusatznutzen führen. Substanzen müssten in Zukunft gegebenenfalls sogar doppelt gekennzeichnet werden. Für Unternehmen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU produzieren, ergäben sich unterschiedliche Anforderungen an die Einstufung und Kennzeichnung. Der Binnenmarkt könnte begrenzt werden, da Stoffe und Gemische nach GHS und zum Inverkehrbringen in der EU zusätzlich mit den neuen Gefahrenklassen gekennzeichnet werden müssten.
Wie geht es weiter?
Die neuen Gefahrenklassen sollen Ende 2023 in Kraft treten. Dann erwarten wir auch den Vorschlag für die Anpassung der REACH-Verordnung. Bislang ist noch unklar, ob die Europäische Kommission tatsächlich von dem bewährten, risikobasierten Ansatz bei der Arbeit mit Chemikalien für gewerblich Beschäftigte abrücken wird. Wir bringen uns weiter in die Diskussion ein und machen uns stark für die Belange der Menschen und Betriebe, die die gesetzliche Unfallversicherung vertritt.
Stellungnahme EU-Chemikalienstrategie: www.dsv-europa.de > Positionspapiere> Arbeit und Soziales
GUT ZU WISSEN
"2018 wurden weltweit Chemikalien im Wert von 3.347 Milliarden Euro verkauft, wobei Europa zweitgrößter Hersteller war. Die Chemikalienherstellung ist der viertgrößte Industriezweig in der EU. Hier sind 30.000 Unternehmen, davon 95 Prozent kleine und mittlere Unternehmen, tätig, in denen rund 1,2 Millionen Menschen direkt und 3,6 Millionen indirekt beschäftigt sind."
forum.dguv.de > Ausgabe 11/22 "Die Chemikalienstrategie der EU"
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