"Klimapolitik muss immer zusammen mit Sozialpolitik gedacht werden"
Die Sozialversicherung steht vor großen Herausforderungen. Die Auswirkungen des Klimawandels sind ohne Sozialpolitik nicht zu bewältigen. Darüber sprach DGUV Kompakt mit Ilka Wölfle, Direktorin der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung (DSV) in Brüssel.
Frau Wölfle, die Fachkonferenz zum 30-jährigen Jubiläum der DSV trug den Titel "Bismarck on the move: Get digital. Go green." Was hat Bismarck mit Digitalisierung und Klimawandel zu tun?
Otto von Bismarck hat vor 140 Jahren den Grundstein für die Sozialgesetzgebung gelegt. Seitdem gab es gesellschaftlich viele Umbrüche, etwa Kriege, den Mauerfall, die Finanz- und die Coronakrise. Aber die Sozialversicherung hat es immer wieder geschafft, sich auf die veränderten Situationen einzustellen und den Menschen den notwendigen Sozialschutz zu bieten. Die großen Herausforderungen, vor denen wir heute in Europa stehen, sind die Digitalisierung und der Klimawandel. Auch für die Sozialversicherung. Im Rahmen unserer Fachkonferenz stellten wir uns den Fragen, was hier auf uns zukommt, welche Schritte erforderlich sind, um diese Herausforderungen zu meistern und welchen Beitrag die Europäische Union dazu leistet, leisten kann oder leisten soll.
Klimapolitik und Sozialpolitik – was haben beide gemeinsam?
Mit dem Europäischen Grünen Deal soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Der Übergang zu einer klimaneutralen Gesellschaft hat aber auch soziale Implikationen. Dass sich soziale Unterschiede im Klimawandel vergrößern könnten, ist eine reale Gefahr. Denn oft sind es die vulnerablen Gruppen – Kranke und Menschen mit niedrigem sozialökonomischen Status – die von den Folgen des Klimawandels stärker betroffen sind. Das ist auch ein Umstand, dem sich die Unfallversicherung stellen muss. Auf dem Bau, in der Landwirtschaft, bei den Arbeitsplätzen im Freien müssen die veränderten klimatischen Bedingungen berücksichtigt werden, um weiterhin einen effektiven Arbeitsschutz zu gewährleisten. Da müssen Schutzstandards überprüft werden und es werden vielleicht neue Präventionskonzepte gebraucht. Und hier stellt sich auch die Frage, ob dies jeder Mitgliedstaat alleine regeln soll oder ob vielleicht einheitliche europäische Regelungen sinnvoll sein können. Was wir ebenso sehen müssen: Auch neue „grüne“ Technologien bringen gegebenenfalls neue Risiken mit sich. Ich denke nur einmal an den Einsatz von Wasserstoff im Rahmen der Energiewende. Da tun sich ganz neue Fragen auf, da ist auch noch jede Menge Wissen erforderlich.
Welchen Beitrag muss die Sozialversicherung leisten, um selbst klimaneutral zu werden?
Ja, auch die Sozialversicherung muss aktiv daran mitwirken, das Gesundheits- und Sozialsystem klimaneutral und nachhaltig auszurichten. Die Frage ist, wer ist hier für was zuständig? Die energetische Sanierung eines Krankenhauses ist zunächst mal Sache des Trägers. Mehraufwände über die Leistungsvergütung – mehr oder weniger, wenn man an die mangelhafte Investitionskostenfinanzierung durch die Bundesländer denkt. Steigende Kosten durch höhere Umweltstandards sind auch bei der Produktion von Arzneimitteln, Medizinprodukten oder sonstigen Gesundheitsgütern zu erwarten.
Wir werden uns mit der Politik auseinandersetzen müssen, wer am Ende die Mehrkosten trägt. Grundsätzlich wird die Prävention von Krankheiten und Schadensereignissen sowie die Senkung von gesundheitlichen Risiken wichtiger werden – damit Behandlungen nicht notwendig und Ressourcen geschont werden.
Sie fordern, dass die Europäische Union die klimaneutrale Transformation der Gesundheits- und Sozialsysteme unterstützen soll. Die Zuständigkeit für die Gesundheits- und Sozialpolitik liegt aber primär bei den Mitgliedstaaten. Ein Widerspruch?
Sozialpolitik liegt in der Tat im Handlungsfeld der Mitgliedstaaten. Einen Widerspruch aber sehe ich nicht. Die EU hat das Thema Klimaschutz weit oben auf ihre politische Agenda gerückt und seit dem Grünen Deal bereits politische Initiativen zur Transformation gestartet. Die betreffen auch die Sozialversicherung. Die EU kann die grüne Transformation durch grenzüberschreitende Koordinierung, Überwachung und Finanzierung unterstützen und gleichzeitig den Sozialschutz mitdenken. Ich komme mal auf das Beispiel Wasserstoff zurück: Wenn die EU Technologien mit Wasserstoff fördert, sollte sie zeitgleich sicherstellen, dass die Unternehmen in Sachen Arbeitsschutz ausreichend geschult werden. Die EU könnte hier eine koordinierende Rolle einnehmen. Und das notwendige Wissen beschaffen. Überhaupt sollte die Forschung zu Klimafolgen und Anpassungsstrategien in den Gesundheits- und Sozialsystemen gezielt durch die EU gefördert werden.
Sie kritisieren, dass auf EU-Ebene ein gemeinsamer Ansatz fehlt, der das Potenzial der Sozialversicherungssysteme bei der Bewältigung des Klimawandels miteinbezieht. Wie könnte aus Ihrer Sicht so ein Ansatz aussehen?
Klimapolitik muss immer zusammen mit Sozialpolitik gedacht werden. Auf europäischer Ebene gibt es zwar Initiativen und Fördertöpfe wie den Klimasozialfonds. Das erscheint mir aber nicht genug. Es braucht einen grundsätzlicheren, systematischen, gemeinsamen Politikansatz. Ein erster Schritt dahin könnte sein, die Grundsätze und Zielformulierungen der Europäischen Säule Sozialer Rechte um eine klimapolitische Komponente zu erweitern. Ganz pragmatisch gesprochen wäre aber auch schon der gemeinsame Dialog von Klimapolitikern und Sozialversicherung ein guter Anfang. Ich glaube, wir könnten viel voneinander lernen.
Um nochmal auf Bismarck zurückzukommen: Ist die deutsche Sozialversicherung fit für die Zukunft?
Natürlich! Die Sozialversicherung hat immer wieder ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, sich wandelnden Herausforderungen zu stellen und diese zu bewältigen. Die Stärke der Sozialversicherungssysteme erwächst aus ihren großen Versichertengemeinschaften, die Krisen fair und sozialgerecht auffangen. Mit der Digitalisierung und dem Klimawandel stehen den Sozialversicherungen große Veränderungen ins Haus. Um das gut zu managen, müssen wir uns auf politischer Ebene für die richtigen Lösungen einsetzen. Und das tun wir in unserer täglichen Arbeit in Brüssel.
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