Grundsätzlich ja. Voraussetzung für eine Anerkennung und Entschädigung ist jedoch, dass die psychische Störung Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit ist. Das konkrete Krankheitsbild muss als Gesundheitsschaden im Sinne eines anerkannten Diagnosemanuals / Diagnoseklassifikationssystem (ICD oder DSM) objektivierbar und positiv festgestellt werden. Darüber hinaus muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, dass die festgestellte psychische Erkrankung wesentlich (mit-)ursächlich (Theorie der rechtlich wesentlichen Ursache) auf einem konkreten Unfallereignis (Unfalltrauma) oder einer anerkannten Berufskrankheit beruht.
Arbeitsunfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper oder die Psyche eines Menschen einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden führen (§ 8 Abs.1 S. 2 SGB VII). Aufgrund dieser gesetzlichen Definition muss es sich für die Anerkennung einer psychischen Erkrankung als Folge eines Arbeitsunfalls immer um ein "singuläres", regelmäßig auf höchstens eine Arbeitsschicht begrenztes Unfallereignis handeln. Aus diesem Grunde können belastende Ereignisse, die erst in ihrer Kumulation über einen längeren Zeitraum (mehrere Arbeitsschichten) hinweg zu einem Gesundheitsschaden führen, z.B. eine psychische Störung aufgrund von Mobbing ("konflikthafte Kommunikation am Arbeitsplatz welche über einen längeren Zeitraum von mehreren Monaten andauert"), nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden.
Grundsätzlich können längerfristige gesundheitliche Belastungen (Expositionen) am Arbeitsplatz zu einer Berufskrankheit führen. Eine anerkannte Berufskrankheit bestimmter psychischer Störungen gibt es in Deutschland aber nicht. Voraussetzung für eine Aufnahme in die sog. Berufskrankheitenliste wäre, dass bestimmte Berufsgruppen nachweisbar besonders stark betroffen sind. Typischerweise handelt es sich dabei um Fälle, bei denen Beschäftigte branchenspezifisch an ihrem Arbeitsplatz besonders hohen gesundheitlichen Belastungen (zumeist chemischen oder physikalischen Einwirkungen) ausgesetzt sind. Bei wiederkehrenden belastenden Konfliktsituationen am Arbeitsplatz, die durch andere Personen verursacht werden, ist eine übermäßige spezifische Belastung bestimmter Berufsgruppen aber bisher nicht nachgewiesen.
In der Praxis handelt es sich zumeist um psychische Traumatisierungen nach Extremereignissen, wie z. B. Überfahrtraumen bei Lokführern, Raubüberfälle im Handel und in Banken, Amokläufen an Schulen. Besonders betroffen von Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz sind z. B. Zugbegleiter, Rettungskräfte, Krankenschwestern und Pflegekräfte, Taxifahrer, Sicherheitsleute sowie Kassenpersonal und weitere Beschäftigtengruppen mit intensivem Kundenkontakt. Es können Beschäftigte aller Branchen von belastenden Ereignissen am Arbeitsplatz betroffen sein, wenn sie als Ersthelfer bei einem schweren Unfall tätig oder Zeuge eines solchen Unglücks werden. Die gesetzliche Unfallversicherung ist bei solchen (oftmals branchenspezifischen) Arbeitsunfällen für die Behandlung bzw. Entschädigung (initialer) psychischer Störungen zuständig, auch wenn keine körperlichen Verletzungen vorliegen.
Eine weitere Fallgruppe sind Arbeitsunfälle mit gravierenden körperlichen Verletzungen (z.B. lebensbedrohliche Polytraumata, Amputationen oder Brandverletzungen), bei denen Versicherte aufgrund der schweren Belastungssituationen sog. (reaktive) psychische Störungen entwickeln können. Diese Fallkonstellationen finden sich branchenübergreifend.
Oberstes Ziel ist, durch frühzeitiges Erkennen, rasches Handeln und aktives Steuern der Heilbehandlung die Entwicklung und Chronifizierung einer psychischen Störung zu verhindern und die Teilhabe zu sichern. Die schnelle und rechtzeitige therapeutische Hilfe bzw. Behandlung hat Vorrang vor der komplexen Kausalitätsprüfung. Fälle mit hohem Gefährdungspotential müssen frühzeitig erkannt und schnellstmöglich einer qualifizierten Bearbeitung zugeführt werden (Fallidentifikation), um zeitnah eine gezielte Befundung, Diagnostik und therapeutische Behandlung einleiten zu können. Dies können Fälle mit einschlägigen psychischen Symptomen bzw. Verdachtsdiagnosen sein, aber auch typische Unfallhergänge, die generell geeignet sind, psychische Gesundheitsstörungen zu verursachen. Seit 2016 wird bei bestimmten Patienten der BG-Unfallkliniken zur Früherkennung ein evaluierter Screening-Bogen bereits während der akut-stationären Behandlung eingesetzt.
Für das Reha-Management der gesetzlichen Unfallversicherung stellen psychische Erkrankungen eine besondere Herausforderung dar, da diese oft nicht sofort erkennbar sind und einen besonderen Umgang mit den Versicherten erfordern. Um möglichst frühzeitig die notwendigen Maßnahmen einzuleiten und eine zügige Wiedereingliederung in Arbeit und Gesellschaft zu erreichen, setzt die Unfallversicherung speziell ausgebildete Reha-Manager/Managerinnen ein. Diese verfügen nicht nur über die nötigen fachlichen Kenntnisse, sondern auch über die erforderliche Sozial- und Methodenkompetenz. Zentraler Aspekt ihrer Arbeit ist der persönliche Kontakt zu den Betroffenen und die Einbeziehung aller am Reha-Verfahren Beteiligten, wie Ärzte, Therapeuten, Ausbilder und Arbeitgeber.
Auch bei Ereignissen mit hohem psychischem Traumatisierungspotential gelingt es den Betroffenen in der Mehrzahl der Fälle, das belastende Ereignis und die akuten psychischen Belastungsreaktionen ohne professionelle Hilfe zu verarbeiten. Bei einigen Personen entwickeln sich aber psychische Symptome, die eine frühzeitige professionelle psychotherapeutische Unterstützung erfordern, um eine Komplikation bzw. eine Chronifizierung zu verhindern. Zum Spektrum der behandlungsbedürftigen psychischen Störungen nach Arbeitsunfällen zählen unter anderem die akute Belastungsreaktion, Anpassungsstörungen, posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, depressive Episoden und somatoforme Schmerzstörungen. Ist eine psychotherapeutische Unterstützung/Behandlung notwendig, beginnt diese ggf. schon während des Klinikaufenthaltes oder durch die ambulante Versorgung im Psychotherapeutenverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung.
Ähnlich wie bei der Versorgung körperlicher Verletzungen durch D-Ärzte, hat die gesetzliche Unfallversicherung bereits seit vielen Jahren damit begonnen, Versorgungsstrukturen für die ambulante Behandlung psychischer Erkrankungen aufzubauen. Das seit 2012 geltende "Psychotherapeutenverfahren" soll die Versorgung von der Akutintervention bis zur beruflichen Reintegration sicherstellen und alle Beteiligten eng in das Verfahren mit einbeziehen. Ziel ist, dass Versicherte mit psychischen Störungen frühzeitig und adäquat professionelle Hilfe erhalten. Die UV-Träger und auch die D-Ärzte sind als Lotsen bei der Heilverfahrenssteuerung gefordert, gefährdete Versicherte zu identifizieren und ihnen den Zugang zum Psychotherapeutenverfahren zu eröffnen.
Das Psychotherapeutenverfahren enthält auf die besonderen Rahmenbedingungen der Unfallversicherung zugeschnittene Zulassungsanforderungen und Handlungsabläufe. Im Rahmen von Heilbehandlung und Reha-Management wird so sichergestellt, dass die UV-Träger auch bei Unfallfolgen mit psychischer Komponente ihren Versorgungsauftrag mit allen geeigneten Mitteln erfüllen können. Unser Ziel ist, weitere qualifizierte Therapeuten als Netzwerkpartner zu gewinnen und damit optimale ortsnahe Versorgungsstrukturen zu schaffen. Betroffene erhalten bei Bedarf eine schnelle psychologische Betreuung bzw. eine störungsspezifische Psychotherapie innerhalb von 1-2 Wochen nach Behandlungsauftrag. Bundesweit sind ca. 730 Psychotherapeuten am Psychotherapeutenverfahren der gesetzlichen Unfallversicherung beteiligt.
Die beteiligten Therapeuten müssen neben der Approbation über besondere Fortbildungen und Erfahrungen in Diagnostik und Behandlung von typischen psychischen Störungen nach Arbeitsunfall oder Berufskrankheit verfügen. Die angewandten Behandlungsverfahren müssen evidenzbasiert sein und sich an den einschlägigen AWMF-Leitlinien orientieren. Die Netzwerktherapeuten sind zur schnellen Übernahme in die Behandlung verpflichtet. Klare Regelungen zum Verfahrensablauf gewährleisten eine einheitliche Umsetzung durch die Therapeuten und UV-Träger. In regionalen Qualitätszirkeln erfolgt ein regelmäßiger persönlicher Austausch zwischen UV-Trägern und Netzwerktherapeuten.
Die Praxis der letzten Jahre hat gezeigt, dass mit frühzeitigen, in aller Regel niederschwelligen, psychologischen Interventionen bzw. psychotherapeutischen Maßnahmen eine erfolgreiche Rehabilitation bei der Mehrzahl der Betroffenen erreicht werden kann. Aktuelle Zahlen belegen, dass ca. 50 % der Fälle mit 5 probatorischen Behandlungssitzungen und etwas mehr als 25 % mit maximal weiteren 10 Therapiesitzungen auskommen. Versicherte, bei denen eine längerfristige Behandlung notwendig ist, werden engmaschig im Reha-Management betreut.
Alle berufsgenossenschaftlichen Kliniken verfügen über sog. Psychotrauma-Ambulanzen, die das ambulante Versorgungnetzwerk des Psychotherapeutenverfahrens ergänzen. Ihnen kommt eine zentrale Rolle im Netzwerk der Patientenversorgung von Unfallversicherungsträgern, Durchgangsärzten und ambulanten Psychotherapeuten zu. Für die psychologischen Dienste der berufsgenossenschaftlichen Kliniken ist die Diagnostik und Behandlung ambulanter Patienten im Rahmen des Psychotherapeutenverfahrens zunehmend ein Schwerpunkt neben der Betreuung der stationären Patienten in Akutversorgung und Rehabilitation. Die Frequenz der Behandlungen kann dabei in Abhängigkeit von der Indikation von intensiven Blocktherapien (z. B. Konfrontationsbehandlung bei Fahrphobie mit mehreren Therapiestunden täglich/wöchentlich über einen kurzen Zeitraum) bis hin zu niedrigschwelligen Therapieangeboten bei schweren chronischen Verläufen variieren. Die Vermittlung eines Patienten an einen Therapeuten aus dem Psychotherapeutenverfahren oder an einen psychiatrischen Kollegen zur psychopharmakologischen Co-Therapie sowie die Indikationsstellung für eine stationäre Therapiemaßnahme gehören ebenfalls zum Leistungsspektrum.
Bei verzögerten Heilverläufen mit anhaltender unfallbedingter Behandlungsbedürftigkeit, schwieriger differentialdiagnostischer Abklärung sowie bei Unsicherheiten über die Indikation einer Psychotherapie werden die Psychotrauma-Ambulanzen von den UV-Trägern zur Mitbeurteilung (Zweitmeinung) eingeschaltet. Die Vorstellung im Rahmen einer sog. Heilverfahrenskontrolle hat zum Ziel, klare Aussagen zur Diagnose zu gewinnen und das weitere Procedere abzustimmen. Unter Umständen wird in einer Heilverfahrenskontrolle auch die Weichenstellung für eine Begutachtung gegeben, wenn keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine unfallbedingte Entstehung oder Unterhaltung der psychischen Störungen vorliegen.
Hinweise auf psychische Symptome können sich für den D-Arzt bereits bei der Erstvorstellung ergeben, wenn Versicherte über das Unfallerlebnis und ihre Beschwerden berichten. In einigen Fällen werden solche persönlichen Angaben auch erst bei der Wiedervorstellung der Patienten geäußert. Bei der Berichterstattung ist der D-Arzt deshalb aufgefordert, entsprechende Hinweise aufzunehmen und den UV-Träger zu informieren, damit dieser seine Unterstützung anbieten kann. So wie andere Fachärzte zur Mitbehandlung hinzugezogen werden, kann der D-Arzt die Vorstellung bei einem Netzwerk-Psychotherapeuten auch selbst veranlassen.
Bei der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist auch für den Bereich der psychischen Störungen auf Teilhabestörungen und deren Auswirkungen auf das Leistungsvermögen im Erwerbsleben abzustellen. Dafür müssen zum Untersuchungszeitpunkt ein objektivierbarer Befund und eine gesicherte Diagnose nach einem anerkannten aktuellen Klassifikationssystem (ICD oder DSM) beschrieben sein. Die festgestellten Störungen sind nach Art und Ausmaß bzw. Schweregrad zu konkretisieren. In Bezug auf das erwerbsrelevante Leistungsvermögen sind vor allem die Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit, der Aufmerksamkeit, der Merkfähigkeit und die sozial-kommunikativen Beeinträchtigungen von Bedeutung.