abgeschlossen 03/2021
An Arbeitsplätzen, aber auch in Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen entstehen immer wieder neue Risiken für die Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung. Diese neuen Risiken bedeuten neue Herausforderungen für den Arbeits- und Gesundheitsschutz. Eine wichtige Hilfe bei der vorausschauenden und zugleich praxisorientierten Ressourcenplanung kann darin bestehen, die neuen und zu erwartenden Anforderungen in Sachen Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz frühzeitig und möglichst präzise zu identifizieren. Daher beauftragten die Unfallversicherungsträger (UVT) das IFA 2011 mit der Entwicklung und dem Aufbau eines Risikoobservatoriums. Dieses DGUV Risikoobservatorium (RO) ist ab 2012, vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) betreut, in die operative Phase gegangen. Nachdem die erste Befragungsrunde 2015 erfolgreich abgeschlossen und die Ergebnisse publiziert wurden (Projektnummer IFA-0096), soll nun die zweite Befragung turnusgemäß (alle fünf Jahre) mit einem modifizierten Konzept starten. Ziel ist – wie in der ersten Runde – neu aufkommende Risiken am Arbeitsplatz branchenorientiert frühzeitig aufzuspüren und die UVT in die Lage zu versetzen, geeignete Präventionsmaßnahmen anzubieten. Gleichzeitig sollen thematische Verschiebungen gegenüber den Ergebnissen der ersten Befragungsrunde identifiziert werden.
Um Rückmeldungen und Erfahrungen zur Handhabbarkeit und Ergebnisnutzung aus der ersten RO-Runde zu berücksichtigen, wurde das Befragungsinstrument überarbeitet: Neue, aus der Literatur und populärwissenschaftlichen Quellen ermittelte Entwicklungen wurden ergänzt und laut Ergebnis der ersten Befragungsrunde unbedeutende Entwicklungen gestrichen. Im Gegensatz zur ersten Befragung wird der Fragebogen ab der zweiten Befragungsrunde branchenspezifisch aufgesetzt, mit durchschnittlich ca. 35 Entwicklungen pro Fragebogen (gegenüber mehr als 90 in Runde 1). Die Branchen entsprechen einer Abfrage bei den UVT, die für diese Befragungsrunde Gelegenheit hatten, die für sie besonders wichtigen Branchen selbst zu bestimmen. Die Entwicklungen im Fragbogen lassen sich folgenden neun übergeordneten Trends zuordnen: Neue Technologien, Digitalisierung, gesundheitsgefährdende Stoffe/Produkte, physikalische Einwirkungen, Globalisierung, Entwicklung zur Dienstleistungsgesellschaft, demografischer Wandel, Katastrophen und gesellschaftlicher Wandel. Sie sind das Ergebnis einer umfassenden Literaturrecherche. Neben Aufsichtspersonen richtet sich die Befragung nun auch Präventionsfachleute aus Fachbereichen und Sachgebieten der DGUV. Zudem kommt ein zweistufiges Onlineverfahren zum Einsatz. Dies soll die Bearbeitungszeit verkürzen, bei gleichbleibender Informationstiefe. Die erste Befragungsstufe fragt nach der Bedeutsamkeit von Entwicklungen mit Blick auf mögliche Sicherheits- und Gesundheitsrisiken für die Versicherten, und zwar auf einer Skala von 1 bis 9. Für jede der etwa 35 Entwicklungen pro Branche wird ein Mittelwert über die Bewertungen der Befragten berechnet; anschließend werden die Entwicklungen nach Mittelwert und Standardabweichung gerankt. Für jeden Mittelwert im Ranking wird zudem ein Konfidenzintervall berechnet, um zu bestimmen, welche Entwicklungen sich signifikant voneinander unterscheiden. In der zweiten Befragungsstufe werden die Aufsichtspersonen nach einer subjektiven Rangreihe der Entwicklungen und nach Ideen zur Prävention gefragt. Dies allerdings nur für Entwicklungen, die in der ersten Befragungsstufe als besonders bedeutsam bewertet wurden.
Die Befragung der UVT fand in drei Gruppen (Clustern) zeitlich versetzt statt, und zwar so, dass verwandte Branchen gemeinsam ausgewertet werden konnten. Der Stichprobenumfang ist dabei so festgelegt, dass sowohl der Versichertenzahl des einzelnen Trägers als auch seiner Branchenstruktur Rechnung getragen wird.
Durch eine statistische Auswertung konnten dann branchenspezifisch die Entwicklungen identifiziert werden, die von der Mehrheit der Befragten als besonders relevant bewertet wurden. Mithilfe von ergänzenden Literaturrecherchen hat das IFA anschließend die Relevanz der ermittelten Entwicklungen mit aktuellen Zahlen, Daten und Fakten belegt und den Handlungsbedarf in Bezug auf hohe Risiken und/oder assoziierte Belastungen und Erkrankungen beschrieben. Die Präventionsideen der Befragten wurden durch zusätzliche Ideen aus der Recherche ergänzt. Abschließend wurde eine Evaluation der Ergebnisse im betrieblichen Umfeld durch eine Online-Befragung von Fachkräften für Arbeitssicherheit (SiFas) durchgeführt.
Insgesamt haben in der zweiten Befragungsrunde – im Zeitraum zwischen 2017 und 2019 – 865 bzw. 798 Präventionsfachleute die Fragebögen der ersten (Rücklaufquote 91,1 %) bzw. zweiten (Rücklaufquote 86,6 %) Befragungsstufe ausgefüllt. Die Antworten wurden statistisch ausgewertet und die Relevanz der Entwicklungen ermittelt. Die Ergebnisse wurden für insgesamt 42 Branchen ausgewertet. Auf dieser Basis wurden Ergebnisberichte für 37 unterschiedliche Branchen erstellt. Sie enthalten neben den individuell wichtigen Entwicklungen auch umfangreiches Zahlenmaterial als Hintergrundinformation, Hinweise zu verknüpften Sicherheits- und Gesundheitsrisiken sowie konkrete Vorschläge zu Präventionsmaßnahmen. Diese Aspekte speisen sich aus Angaben der Befragungsteilnehmenden sowie aus Literaturrecherchen, die das IFA auf der Basis von Freitextantworten durchgeführt hat. Alle Ergebnisberichte stehen den jeweiligen UVT intern zur Verfügung und wurden zum Teil auf unter den Fachinformationen zum Risikoobservatorium veröffentlicht.
Zu den zehn Top-Entwicklungen der Gesamtstichprobe der zweiten Befragungsrunde gehören folgende Entwicklungen (Auftrittshäufigkeiten unter den Top-Entwicklungen über alle Cluster in Klammern):
Fachkräftemangel (33x), demografischer Wandel und unausgewogene Altersstruktur (33x), Arbeitsverdichtung, längere Arbeitszeiten und Verantwortungsausweitung (31x), langanhaltende und/oder einseitige Beanspruchung des Muskel-Skelett-Systems (27x), interkulturelle und sprachliche Anforderungen (25x), Lärm (17x), Mobilitätsanforderungen/Verkehrsdichte (13x), Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und vernetzte Automatisierung, auch für mobile Arbeit (12x), fehlende gesellschaftliche und/oder finanzielle Anerkennung (12x) sowie UV-Strahlung (12x).
Die betriebliche Evaluation prüfte in einer eigenen Onlinebefragung im Rahmen der sogenannten Sifa-Community exemplarisch für sechs Branchen, inwieweit Präventionsfachleute der gesetzlichen Unfallversicherung und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (SiFas) zu gleichen Einschätzungen der Entwicklungen kommen. Die Evaluation hat die Ergebnisse des Risikoobservatoriums weitestgehend bestätigt. Die geringste Übereinstimmung in den sechs Branchen lag bei 77,5 %; die höchste bei 92,3 %. Die Ergebnisse des DGUV Risikoobservatoriums dienen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen als Orientierung für die Präventionsarbeit der nahen Zukunft. Ein Vergleich der wichtigsten Entwicklungen für die verschiedenen Unfallversicherungsträger zeigt Überschneidungen und Ansatzpunkte für Vernetzung, Austausch und Zusammenarbeit. Themen, die Prävention zukünftig vorrangig bestimmen, variieren von Branche zu Branche, und doch gibt es gemeinsame Merkmale: Die Herausforderungen für den Erhalt von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit nehmen an Komplexität zu, Wechselwirkungen verschiedener Gefährdungsfaktoren – insbesondere auch in Kombination mit psychischen Belastungen – sind die Regel. Prävention muss ganzheitlich und interdisziplinär stattfinden. Arbeitsschutz muss zudem immer mehr Faktoren berücksichtigen, die sich dem gesetzlichen definierten Zugriff der Unfallversicherung entziehen, aber dennoch Folgen für Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten haben. Dazu gehören bspw. tarifrechtliche und arbeitsmarktpolitische Parameter, gesellschaftliche Wertestandards oder globale Migrationsbewegungen. Kooperationen über Unfallversicherungsgrenzen hinaus können Lösungen liefern.
-branchenübergreifend-
Gefährdungsart(en):Arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren
Schlagworte:Risikoabschätzung
Weitere Schlagworte zum Projekt:Risikoobservatorium, Prävention, Risiko, neu auftretende Risiken, Trend, Entwicklung, Unfallversicherungsträger (UVT), Wandel der Arbeitswelt
Fachinformationen zum Risikoobservatorium